Rezension zu "Aufzeichnungen eines Krokodils"

Für die Zeitschrift Rosige Zeiten habe ich Anfang 2021 "Aufzeichnungen eines Krokodils" gelesen und rezensiert. Hier könnt ihr den Artikel lesen:


„Aufzeichnungen eines Krokodils“ von Qiu Miaojin

 

Was würde ein Krokodil berichten, wenn es schreiben könnte?
In Qiu Miaojins Roman „Aufzeichnungen eines Krokodils“ leben Krokodile unter den Menschen. Sie verstecken sich oder tragen Menschen-Anzüge, damit man sie bloß nicht erkennt. Lazi, die Protagonistin, ist auch solch ein Krokodil. Das klingt auf den ersten Moment vielleicht etwas komisch. Aber natürlich handelt es sich bei den Krokodilen nicht um echte Tierwesen, sondern sie stehen als Metapher für queere Menschen.

 

 

1987. Taiwan. Lazi beginnt ihr Studium an einer renommierten Universität in Taipeh. Man muss sich die Zeit so vorstellen: das Kriegsrecht[1] wurde gerade aufgehoben, in Taiwan herrscht Aufbruchsstimmung, demokratische Initiativen und soziale Bewegungen etablieren sich. Ein anderes Leben scheint möglicher - nur welches? Die Universität beschreibt Lazi als „Sicherheitstür, die es ermöglicht, der gesellschaftlichen Ordnung zu entfliehen“ (S. 43), dem Arbeitszwang und dem Heiratsdruck zu entkommen. Gänzlich unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und Regeln, die z.B. Queersein abwerten, sind die Studierenden natürlich trotzdem nicht. Aber an der Uni gibt es zumindest neue Räume, das Selbst zu (er-)finden.

 

 

In Miaojins Roman begleiten wir Lazi bei ihren Erlebnissen und Selbstfindungen. In acht Notizbüchern erleben wir u.a. ihre konfliktreiche On-Off-Liebesbeziehung mit ihrer Kommilitonin Shuiling und das Entdecken der queeren Community. Immer mit dabei ist ihr Hadern mit dem eigenen Begehren, sind Selbstzweifel, Lazis Furcht vor sich selbst, ihr Todeswunsch und Suizidgedanken. Und dann ist da noch das Krokodil. Es kommt in kleinen Zwischenkapiteln zu Wort. Mit ihm werfen wir einen manchmal sogar komisch-absurden Blick auf die Lebensverhältnisse, in denen sich queere Menschen befinden.

 

 

Veröffentlicht wurde Miaojins Roman in Deutschland erst 2020. Auf Chinesisch erschien er aber bereits 1994. Er war wichtige Lektüre der erstarkenden queeren Bewegung in Taiwan. Bekannt wurde er unter anderem für seine damals als explizit empfunden dargestellte lesbische Sexualität. Der Tabubruch lässt sich heute nur noch erahnen. Das was nach wie vor schockiert, ist Lazis enormes Hadern mit dem eigenen Lesbischsein, das beim Lesen und Mitfühlen stellenweise nur schwer auszuhalten ist. Wie schwer ein akzeptierender Umgang mit sich selbst ist, wenn das Umfeld nicht akzeptierend ist, das zeigt Autorin Miaojin sehr anschaulich: Für Lazi ist Homosexualität mit Sünde verknüpft. Sie schreibt: „Ich akzeptierte mich nicht. Es gab kein Gegengift gegen mein Selbst. Ich hatte das Gift vor zu langer Zeit schon in mich aufgenommen. Die gesamte Menschheit hatte Gift für mich ausgelegt“ (S. 170).

 

 

Seit den 80ern hat sich zum Glück einiges getan. Taiwan ist heute eines der liberalsten asiatischen Länder, wenn es um die Rechte von LSBTIQ* geht. Qiu Miaojin hat von dieser Entwicklung leider nichts mehr mitbekommen. 1994 ging sie nach Paris um dort Psychologie zu studieren. „Aufzeichnungen eines Krokodils“, das in den 90ern in Taiwan queeren Kultstatus erreichte und mehrfach ausgezeichnet wurde, wurde erst kurz vor ihrem selbstgewählten Tod veröffentlicht. Miaojins eigenes Leben hat durchaus einige Parallelen zu Lazis Leben. Ulrike Helmer, in deren Verlag das Buch nun zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht wurde, schreibt: „Qiu Miaojin starb aus Lebenssehnsucht, nicht aus Todeslust“. Sehnsucht nach einem Leben, das so nicht lebbar war. Im Roman finden wir dazu möglicherweise eine Erläuterung. Denn Miaojins Protagonistin Lazi schreibt: „Ich forderte meine Begierde zum Duell. Das hieß: Ich gab es auf, mich dagegen zu wehren, ins eigene Verderben zu rennen. Genauso wie es mir auch egal wurde, dass ich, bevor mein Tod kam, alles, was vorher verbannt und verboten war, vollends ausgekostet haben musste“ (S. 63) Verbannt und verboten blieben für Lazi (und Miaojin?) ihr Lieben und ihr Begehren. Lesbischsein und Queersein bedeuteten Verderben. Die große Herausforderung das eigene Begehren als positiven Teil des Selbst anzunehmen, schien trotz aller Bemühungen unmöglich.

 

 

Heute ist der Name von Miaojins Protagonistin Lazi in Taiwan ein Synonym für lesbisch; so gibt es Lazi-Partys oder Lazi-Paarbörsen. Wie schön, dass Miaojins Protagonistin Lazi so doch noch in einer akzeptierenderen Welt ankommt und ihr Name als selbstgewählter und positiver Begriff für Lesbischsein genutzt wird.

 



[1] Das Kriegsrecht war im Jahr 1949 verhängt worden, nachdem die Regierung der Republik China sich von Festlandchina nach Taiwan zurückgezogen hatte, und es blieb fast vier Jahrzehnte in Kraft, bis Präsident Chiang Ching-kuo es 1987 aufhob.

 

Das Buch:

 

Qiu Miaojin. Aufzeichnungen eines Krokodils

2020 erschienen im Ulrike Helmer Verlag

(Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Eyu shouji in Taipeh)

Aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt von Martina Hasse

ISBN: 978-3-89741-441-9